Antrag: UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen umsetzen - Alternativen zum Heim schaffen - Ambulante Wohnformen weiter ausbauen
Der Landtag wolle beschließen:
Entschließung
Der Landtag stellt fest:
- Im Dezember 2008 ratifizierte der Deutsche Bundestag das Übereinkommen der VerÂeinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die völkerrechtliÂchen Verträge sind am 26. März 2009 in Kraft getreten. Damit hat die Bundesrepublik Deutschland die Absicht bekundet, die nationale Gesetzgebung so auszurichten, dass Menschen unabhängig von der Art und vom Schweregrad ihrer Behinderung als vollÂwertige und gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger ihres Landes anerkannt werden.
- Der Landtag begrüßt, dass sich die 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz das neue Leitbild der UN-Konvention zu eigen gemacht und hierzu Eckpunkte für die Reform der Eingliederungshilfe formuliert hat. Der Landtag begrüßt insbesondere die dazu ergangene Aussage aller Bundesländer, "dass es nicht Ziel des Reformvorhabens ist, Teilhabemöglichkeiten und Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige einzuschränken, zu ihrem Nachteil zu kürzen oder wegfallen zu lassen."
- In Niedersachsen lebt immer noch eine viel zu große Zahl von Menschen mit Behinderungen in stationären Einrichtungen. Die Zahl der Heimplätze nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu. Niedersachsen nimmt mit 28 Heimunterbringungen pro 10.000 EinwohnerInnen den viertschlechtesten Platz im Ländervergleich ein. Alternativen zur stationären Unterbringung sind in den vergangenen Jahren nicht ausreichend aufgebaut worden. Ein Programm zur Konversion stationärer Plätze in ambulant betreutes Wohnen fehlt.
- Die Inanspruchnahme des persönlichen Budgets bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Bisher haben nur ca. 60 Personen das Persönliche Budget und 20 Personen das "Budget für Arbeit" in Anspruch genommen. Eine Kampagne zur stärkeren Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets hält die Landesregierung nicht für erforderlich.
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
I. Umsetzung des neuen personenzentrierten Hilfesystems
- ein Konzept zur personenzentrierten Eingliederungshilfe mit einem durchlässigen und flexiblen Hilfesystem zu entwickeln, das sich am individuellen Bedarf der Betroffenen orientiert und ein Verfahren etabliert, das den Menschen mit Behinderungen in seiner Situation ganzheitlich erfasst, ihn aktiviert und sein Wunsch- und Wahlrecht respektiert,
- leistungsträgerübergreifende unabhängige Beratungs- und Unterstützungsangebote auf regionaler und lokaler Ebene sozialraumorientiert auf- oder auszubauen,
- für eine verbindlich abgestimmte Kooperation der Hilfen in den verschiedenen Sozialleistungssystemen zu sorgen und die Hilfeplankonferenzen landesgesetzlich abzusichern,
- die Hindernisse für eine stärkere Inanspruchnahme des Instruments des "Persönlichen Budgets" aufzuarbeiten und sich daraus ergebende Handlungsvorschläge umzusetzen,
- ein partizipatives Teilhabemanagement und Hilfeplanverfahren mit Zielvereinbarungen zwischen dem Leistungsträger und den Leistungsberechtigten zusammen mit den Kommunen zu errichten,
- für ein differenziertes und vielfältiges Angebot sozialer Unterstützungsleistungen und bei der sozialen Dienstleistungsstruktur zur Realisierung des Wunsch- und Wahlrechts zu sorgen,
- für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ein Komplexleistungssystem zu gewährleisten.
II. Konversion und Rahmenvereinbarung
Eine Vereinbarung mit den Trägern der vorhandenen Einrichtungen der Eingliederungshilfe bei der Umorientierung von der einrichtungsbezogenen zu einer personenzentrierten Hilfestruktur dergestalt abzuschließen, dass
- innerhalb der nächsten 5 Jahre der Abbau von 10% der vorhandenen stationären Heimplätze erreicht wird,
- ein finanzielles (investives) Anreizprogramm des Landes zur Konversion der Einrichtungen aufgelegt wird,
- Anreize für die Bewohner stationärer Einrichtungen zum Auszug in eine eigene Wohnung gegeben werden,
- Mittel für die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stationärer Einrichtungen zum Einsatz in außerstationären Arbeitsfeldern sowie zur Umstellung der Organisations- und Personalentwicklung zur Verfügung gestellt werden.
III. Einheitliche Steuerung und Gesamtverantwortung des Landes
- als Träger der überörtlichen Soziahilfe zur einheitlichen Steuerung und Umsetzung des neuen Leitbildes der personenzentrierten Eingliederungshilfe eine besondere trägerübergreifende Koordinations- und Strukturverantwortung zu übernehmen,
- die Gesamtverantwortung für die Steuerung der einzelnen Teilhabeleistungen gemeinsam mit den örtlichen Trägern der Soziahilfe wahrzunehmen.
IV Initiativen auf Bundesebene
Auf Bundesebene im Rahmen des nationalen Aktionsplanes für eine Änderung der Gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Sozialgesetzbüchern V,VIII, IX, XI und XII u.a. dahingehend Vorlagen einzubringen, dass eine personenzentrierte Hilfe ermöglicht wird, insbesondere dadurch dass,
- die formalen Trennungen zwischen ambulantem, teilstationärem und stationärem Bereich aufgehoben und neue Formen von flexiblen Unterstützungsangeboten ermöglicht werden,
- ein bundeseinheitliches Verfahren zur personenbezogenen Feststellung des individuellen Bedarfs eingeführt wird,
- der Katalog der Leistungen zur Teilhabe an der Gemeinschaft um Leistungen zur Unterstützung behinderter Eltern bei der Betreuung ihrer Kinder erweitert wird,
- die Fachleistungen Eingliederungshilfe und Pflege von den existenzsichernden Leistungen zum Lebensunterhalt und Wohnen (HLU) gesetzlich klar getrennt werden,
- ein Bundesteilhabegeld als Nachteilsausgleich als eigenes Leistungsgesetz verankert wird.
Begründung
Die UN-Konvention verpflichtet die staatlichen Organe gemäß Artikel 4 dazu, die "volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit BeÂhinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern." Damit stehen die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in der Pflicht, den Gestaltungs- und Handlungsraum von Menschen mit Behinderungen zu garantieren und durch aktives Handeln möglich zu machen.
Das Übereinkommen zur UN-Konvention ist Ausdruck eines langjährig angestoßenen Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik. Verbunden ist damit der Wechsel vom Wohlfahrtsgedanken zum Menschenrechtsansatz. Die UN-Konvention fordert von den Staaten die Sicherung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für Menschen mit Behinderungen sowie ihre uneingeschränkte Teilhabe, die Sicherung der individuellen Autonomie und Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderungen einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, die Möglichkeit, aktiv an Entscheidungsprozessen über politische Konzepte und über Programme mitzuwirken , wenn diese sie unmittelbar betreffen sowie die Einbeziehung der Geschlechterperspektive.
Auch wenn das deutsche Recht für Menschen mit Behinderungen im internationalen Vergleich gut abschneidet, steht die deutsche Rechtsordnung durch das Übereinkommen vor großen Herausforderungen. Die Umsetzung der Forderungen der UN-Konvention setzt weitere Anforderungen an die Politik und Gesellschaft. Hierzu gehört Menschen mit Behinderungen einen angemessenen Lebensstandard zu garantieren, der ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben sowie volle gesellÂschaftliche Partizipation ermöglicht. Menschen mit Behinderungen sollen den eigenen Lebensort frei wählen sowie selbstbestimmt und möglichst unabhängig von anderen leben können.
"Inklusion als Leitidee führt zu einem Wandel in der Ausgestaltung sozialer Unterstützungsleistungen. Besonders für behinderte, hilfe- und pflegebedürftige Menschen muss eine verlässliche und zugängliche soziale Dienstleistungsstruktur entwickelt werden. Der Perspektivwechsel betrifft somit auch das gesamte professionelle System und letztlich jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter in Verwaltungen, bei Leistungserbringern, in Verbänden und Selbsthilfegruppen" führt das Eckpunktepapier der ASDMK aus (Eckpunktepapier der ASMK, S. 2) und fährt fort: "Die Neuausrichtung der Eingliederungshilfe muss durch den Aus- und Aufbau sozialräumlicher Unterstützungsstrukturen begleitet werden." (ebenda S.5)
Zu einer solchen Neuausrichtung gehört , dass die Landesregierung als überörtlicher Sozialhilfeträger die Umorientierungsprozesse mit einheitlichen Standards steuert und diese Umorientierung nicht einer intransparenten pluralen Beliebigkeit auf Ortsebene überlässt.
Viele Menschen mit Behinderungen können ihr Wunsch- und Wahlrecht nicht ausreichend realisieren, da die Erweiterung der sozialen Infrastruktur in den letzten Jahrzehnten vorrangig im stationären Sektor erfolgte. Ambulante Leistungen und neue Wohnformen wurden nur zaghaft ausgebaut.
Zur Umorientierung der Eingliederungshilfe bedarf es einer Vereinbarung mit den Trägern der Einrichtungen der Eingliederungshilfe, die investive und nichtinvestive Hilfen zur Konversion stationärer Einrichtungen einschließen und Anreize für die Betroffenen zum selbstständigen Wohnen bieten, wie es der Landschaftsverband Rheinland als überörtlicher Soziahilfeträger vorgemacht hat. Politisches Ziel sollte ein Abbau von 10% der stationären Plätze zugunsten des selbstständigen und ambulant betreuten Wohnens innerhalb der nächsten 5 Jahre sein. Die durch diesen Abbau stationärer Kosten frei werdenden Mittel sollen in den Ausbau ambulanter Wohnformen fließen, so dass beim Prozess der Konversion Kostenneutralität erreicht wird.
In vielen Fällen scheitert die Eingliederung, weil eine Heimeinweisung mangels Prüfung von Alternativen erfolgt und in vielen Fällen faktisch eine nicht revidierbare Entscheidung bedeutet. Deshalb ist es erforderlich, Hilfeplanverfahren landesweit verbindlich zu etablieren und entsprechende Strukturen zu fördern. Hilfeplankonferenzen müssen von der Ebene informeller Treffen zu formell verbindlichen Gremien weiterentwickelt werden, individuelle Hilfepläne und Zielvereinbarungen müssen zur Grundlage der Leistungsgewährung werden.
Zur Wahrnehmung des Wunsch- und Wahlrechts durch die betroffenen Menschen mit Behinderungen bedarf es unabhängiger Beratungsstellen sowie einer Stärkung der Kompetenzen der gemeinsamen Servicestellen. Bei der Einsetzung eigener Fallmanager im Rahmen des Teilhabemanagements ist die Unabhängigkeit des "Case-Managements" von Kostenträgern und Leistungserbringern zu gewährleisten.
Die Inanspruchnahme des Instruments des Persönlichen Budgets ist viel zu niedrig, bei der Beantragung des trägerübergreifenden Budgets sind vorhandene Hindernisse insbesondere im Zusammenhang mit den Bestimmungen des SGB XI abzubauen.
Die Umorientierung der Eingliederungshilfe bedarf auch der Änderung bundesgesetzlicher Rahmenbedingungen in den Sozialgesetzbüchern V, VIII, IX, XI und XII. Insbesondere müssen die formalen Trennungen zwischen ambulantem, teilstationärem und stationärem Bereich aufgehoben und neue Formen von flexiblen Unterstützungsangeboten ermöglicht werden, ein bundeseinheitliches Verfahren zur personenbezogenen Feststellung des individuellen Bedarfs eingeführt werden sowie die Fachleistungen Eingliederungshilfe und Pflege von den Existenz sichernden Leistungen zum Lebensunterhalt und Wohnen (HLU) gesetzlich klar getrennt werden
Weitere notwendige gesetzliche Änderungen auf Bundesebene betreffen das trägerübergreifende persönliche Budget, das auch im Rahmen des SGB XI zu einer Regelleistung entwickelt werden muss sowie die bisher im Rahmen der stationären Versorgung mit abgedeckten Bedarfe (z.B. der medizinischen Versorgung), die gesetzlich neu zugeordnet werden müssen. Die Wechselwirkungen eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sowie des neuen Begutachtungs-Assessments in der Pflegeversicherung auf die Hilfe zur Pflege und auf die Eingliederungshilfe einerseits und der Reform der Eingliederungshilfe auf die Pflegeversicherung andererseits sollten beachtet und diese Prozesse im Gesetzgebungsverfahren miteinander verknüpft werden.
Notwendig ist ferner ein Bundesleistungsgesetz für ein Teilhabegeld als bundeseinheitlicher dauerhafter Nachteilsausgleich.
Miriam Staudte
stellv. Fraktionsvorsitzende